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Abschied vom Provisiorium

Autor Andreas Wirsching
de Limba Germană Hardback – mar 2006
Als 1982 Helmut Kohl unter dem Schlagwort der »geistig-moralischen Wende« Kanzler wurde, hofften seine Anhänger auf Stabilität nach den unruhigen siebziger Jahren, seine Gegner fürchteten eine Zeit der Restauration. 1990 lag die erste Hälfte seiner Kanzlerschaft hinter ihm: Sie war geprägt von Auseinandersetzungen um Nachrüstung und Umweltpolitik; Massenarbeitslosigkeit und Rentendiskussion verunsicherten die Bevölkerung, die Medienlandschaft wurde revolutioniert.<br />Andreas Wirsching entwirft ein breites Panorama der achtziger Jahre. Er spürt den Tiefenkräften der bundesdeutschen Gesellschaft nach und beschreibt einen Epochenwechsel, der sich in drei Erscheinungen ausdrückt: einer Individualisierungsspirale, der Expansion des Sozialstaats und der Unterspülung seiner Fundamente infolge des demographischen, ökonomischen und soziokulturellen Wandels. Am Ende stand jedoch das alles überstrahlende Ereignis: die Wiedervereinigung.<br /><br />
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Specificații

ISBN-13: 9783421067371
ISBN-10: 3421067376
Pagini: 848
Dimensiuni: 182 x 250 x 52 mm
Greutate: 1.52 kg
Editura: DVA Dt.Verlags-Anstalt

Notă biografică

EXCERPT: Einführung: Epochenwechsel Dies ist der sechste Band der Reihe "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", die von 1981 bis 1987 erschien. Daß er anders aussieht als seine Vorgänger, hängt mit seinem Gegenstand zusammen. Denn als die Reihe begründet wurde, spiegelte sie einen sehr spezifischen Zeitgeist wider. In den achtziger Jahren verabschiedete sich die "alte" Bundesrepublik endgültig von ihrem Selbstverständnis als Provisorium, und als sie im Mai 1989 auf vier Jahrzehnte ihres Bestehens zurückblicken konnte, war sie tatsächlich viel mehr, ja im Grunde "ein ganz normaler Staat": Sie war zu einem weitgehend souveränen deutschen Teilstaat mit einer eigenständigen Staatsräson und einem etablierten Platz im westlichen Bündnis geworden. In ihr hatten sich neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse ebenso entfaltet wie eine spezifische politische Kultur. Als Teilstaat verfügte die Bundesrepublik über eigene Traditionen und eine eigene Geschichte: eine Geschichte, von der viele glaubten, der Zeitpunkt sei nunmehr gekommen, ihr einen angemessenen Platz in der interessierten Öffentlichkeit zu verschaffen. Die Idee, die Geschichte der Bundesrepublik als Teilstaat in einem großen, mehrbändigen und repräsentativ ausgestatteten Werk darzulegen, atmete mithin den gleichen Geist wie das ebenfalls in den achtziger Jahren vorangetriebene Vorhaben, ihre Geschichte im Museum auszustellen. "Wie sehr sie sich dagegen gesträubt hat, die Bundesrepublik Deutschland hat eine Geschichte, und diese soll erzählt werden." Nun gehört es zu den größten Ironien der neuesten deutschen Geschichte, daß der tatsächliche Abschied vom Provisorium zu eben jenem Zeitpunkt gleichsam "passierte", als sich die "alte" Bundesrepublik definitiv von ihrem Selbstverständnis als Provisorium löste. 1989/90 vollzog sich der Abschied vom Provisorium also in ganz anderer Weise, als ihn die große Mehrheit der Westdeutschen gerade vorzunehmen im Begriff war. Dem entspricht es, wenn das vorliegende Buch eine doppelte Sichtweise eröffnet. Zum einen weiß es sich seinen Vorgängern und der Konzeption der Reihe insofern verpflichtet, als es mehr oder minder strikt aus der Perspektive der (alten) Bundesrepublik geschrieben ist. Zum anderen aber kann und will es natürlich nicht verleugnen, daß sein Standort in der "neuen" Bundesrepublik liegt. Äußerlich ist dies schon daran erkennbar, daß ihm die bewußt repräsentative Ausstattung seiner Vorgänger fehlt. Verführerisch, aber aus den bereits genannten Gründen inadäquat wäre es, den achtziger Jahren ex post einen wiedervereinigungsgeschichtlichen Subtext einzuschreiben. Den dramatis personae mag sich eine solche Anschauung aufdrängen, faktisch aber hat es ihn nicht gegeben. Andererseits verändert die weltgeschichtliche Zäsur von 1989/91 den Blick auf den Gegenstand, was dieses Buch von seinen Vorgängern unterscheidet. Sie erleichtert zugleich die Antwort auf die Frage, ob es der Historiker überhaupt wagen könne, sich auf einen solchen Stoff der jüngsten Geschichte einzulassen. Denn unstreitig entkräftet der Epochenwechsel den klassischen Einwand einer zu geringen zeitlichen Distanz zum Gegenstand. Wie tief die Zäsur und wie weit entfernt der im folgenden verhandelte Gegenstand zum Teil bereits ist, zeigt sich nicht nur an den politischen Daten. Auch andere, gleichsam stillere Beispiele wie etwa die Geschichte der Wiedergutmachung weisen in die gleiche Richtung. So stimmten in den achtziger Jahren viele Experten darin überein, darunter auch der Nestor der Materie, Walter Schwarz, die Wiedergutmachung sei nun zum Abschluß gekommen. Auch die technisch-kulturelle Entwicklung unterstreicht den Epochenwandel. So stellte etwa die Bundesregierung nach ihrem Wahlsieg vom 2. Dezember 1990 Überlegungen zur künftigen Finanzierung der deutschen Einheit an. Am 8. Januar 1991 beschloß die Koalitionsrunde unter anderem, den Telefontakt um einige Sekunden zu verkürzen, um die dadurch erzielten Mehreinnahmen der Bundespost in die Gestaltung der inneren Einheit zu investieren. Bedenkt man, welche Entwicklung das Telekommunikationswesen seitdem genommen hat, so wird die Geschwindigkeit des Umbruchs ebenso deutlich wie die Untauglichkeit des damaligen Vorschlags. Solche Beispiele, deren Liste sich unschwer vermehren ließe, zeigen schlaglichtartig, wie groß die Distanz zu den achtziger Jahren inzwischen geworden ist. Und nimmt man Hans-Peter Schwarz beim Wort mit seinem Plädoyer für ein Schreiben der "neuesten Zeitgeschichte", wenn sie noch "qualmt", und das heißt nach der "tiefen, weltgeschichtlichen Zäsur" von 1989 bis 1991, dann befinden wir uns auf den folgenden Seiten schon auf hinreichend sicherem Terrain. Tatsächlich qualmt die Geschichte der achtziger Jahre nicht mehr, wenngleich sie zweifellos noch glüht, um im Bilde zu bleiben. Während daher die "Primärerfahrung" der Akteure und Zeitzeugen noch einen wichtigen zeitgeschichtlichen Zugang zu den achtziger Jahren bildet, lassen sie sich doch zugleich schon als Gegenstand wissenschaftlicher Geschichtsschreibung konstituieren. Das gilt auch, wenn entscheidende Kontinuitäten wie etwa im Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sowie der kulturellen Entwicklungen bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreichen. Sie sind unübersehbar und werden im Verlauf der Darstellung gebührend zur Geltung kommen. Der andere klassische Einwand gegen die historische Beschäftigung mit der jüngsten Zeitgeschichte betrifft den Quellenzugang. Zwar unterlagen auch die Forschungen zu diesem Buch der dreißigjährigen Sperrfrist staatlicher Akten. Allerdings gilt dies nicht für die Bestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), auf die vor allem für die Analyse der Deutschlandpolitik exemplarisch zurückgegriffen werden konnte. Hauptsächlich aber ließ sich die Quellenlage durch einen gänzlich unbeschränkten Zugriff auf die Parteiarchive substantiell erweitern. Am wichtigsten war das Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, das insbesondere mit den Wortprotokollen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine reiche Mine an Information bereithält. Aber auch die Materialien der Friedrich-Naumann-Stiftung (Archiv des Liberalismus) und der Friedrich-Ebert-Stiftung (Archiv der sozialen Demokratie) erlaubten eine Vielzahl von Einsichten. Gleiches gilt für das Archiv Grünes Gedächtnis, dessen Bestände gerade die Aufstiegsphase der GRÜNEN als politische Kraft plastisch dokumentieren. Schlechterdings unübersehbar ist die Fülle der gedruckten Quellen und Literatur. Die achtziger Jahre selbst und und das Nachdenken über sie haben eine Flut von Veröffentlichungen hervorgebracht; jeder Anspruch auf Vollständigkeit wäre Illusion. Es würde daher den Rahmen sprengen, an dieser Stelle einen umfassenden Forschungsbericht geben zu wollen, zumal sich auch von einem Forschungsstand im engeren Sinne nur eingeschränkt sprechen läßt. Historiker haben sich der Dekade als ganzer ohnehin erst ausnahmsweise zugewandt. Demgegenüber läßt sich die Masse der vorliegenden, äußerst heterogenen Literatur grosso modo in drei Kategorien einteilen. Erstens sind jene Arbeiten zu nennen, die in der einen oder anderen Weise aus den politischen Auseinandersetzungen der Zeit selbst hervorgegangen sind. In nachdrücklicher Form tragen sie das Zeichen des zeitgenössischen Engagements, zugleich aber beruhen sie auf den wertvollen Informationen und Reflexionen der Mitlebenden, sei es der Akteure selbst oder der beobachtenden und analysierenden Publizisten. Zweitens entstand in den achtziger Jahren selbst eine Fülle an Politik und sozialwissenschaftlicher Literatur über die zeitgenössische Politik, Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik. Ihre Themen betreffen eine kaum zu überblickende Spannbreite. Sie reicht von der Erforschung der Parteien, des Regierungssystems und des Sozialstaats bis hin zu empirischen Datenerhebungen und Analysen über Wertewandel und neue Milieus, Arbeitsbedingungen und Armutskarrieren.Beide genannten Kategorien kennzeichnet es, daß sich bei ihrem Gebrauch durch den Historiker die Grenzen zwischen Quelle und Sekundärforschung häufig verflüssigen. Anders verhält es sich indes bei der dritten Kategorie, das heißt jenen politik- und sozialwissenschaftlichen sowie zeithistorischen Forschungen, die mit einem gewissen zeitlichen Abstand auf die Dekade verfaßt worden sind und daher bereits von der oben diskutierten Distanz zum Gegenstand profitieren. Schwerpunkte bestehen insbesondere in der Außen- und Deutschlandpolitik, der Erforschung konkreter innenpolitischer Entscheidungsprozesse und Politikfelder sowie der Geschichtskultur. Überdies wurden eingehende Forschungen zur inzwischen weitgehend ausgeleuchteten Geschichte der Wiedervereinigung sowie zur Geschichte der Sozialpolitik noch von der Regierung Kohl in Auftrag gegeben. Sie konnten von einem privilegierten Zugang zu ansonsten gesperrten staatlichen Archivalien profitieren.An diese Forschungslage anknüpfend, weiß sich das vorliegende Buch als Gesamtdarstellung des letzten Jahrzehnts der "alten" Bundesrepublik einem weiten Geschichtsverständnis verpflichtet. Zwar orientiert es sich an dem Gliederungsprinzip der Reihe, nämlich an den Amtszeiten der Bundeskanzler; dementsprechend setzt auch die Darstellung chronologisch mit dem Regierungswechsel vom 1. Oktober 1982 ein. Aber die zentralen politischen Herausforderungen und Entscheidungen dieser Zeit müßten weitgehend unverständlich bleiben, würden sie nicht verknüpft mit den Bedingungen des Parteien- und Regierungssystems, den großen ökonomischen und sozialen Strukturen und Prozessen sowie mit der Entfaltung neuer kultureller Tendenzen. Die strukturanalytisch verfahrenden Kapitel, die in einem interdisziplinären Zugriff den Determinanten und der Dynamik jener Prozesse nachzuspüren suchen, greifen daher immer wieder in die siebziger Jahre zurück. Mithin rahmen ein überwiegend chronologisch verfahrender Auftakt und ein chronologischer Schluß, der verhältnismäßig knapp die Geschichte der Wiedervereinigung behandelt, die thematisch konzentrierten Abschnitte ein. Sie gelten den Entwicklungen in den Parteien, den letztlich kaum steuerbaren Bedingungen der Wirtschaft, den Tendenzen in Gesellschaft und Kultur sowie der Außen- und Deutschlandpolitik. Dabei lädt das Buch den Leser ein, seinen Blick auf ausgewählte thematische Brennpunkte zu richten, die um ihres exemplarischen Charakters willen etwas ausführlicher zur Sprache kommen. Sie verdeutlichen die komplexe Dynamik, aber auch die Grenzen politischer Prozesse in der bundesrepulikanischen Massen- und Mediendemokratie. Dies gilt zum Beispiel für Themen wie die Friedensbewegung, die Entwicklung der Stahlindustrie, die Steuerreform der achtziger Jahre, die Familienpolitik, die Probleme der Umwelt und der Atomenergie und die Entfaltung Neuer Medien und Neuer Technologien. Das Buch behandelt den Abschied vom Provisorium. Zugleich unterliegt es selbst dem ehernen Gesetz der Wissenschaft: In dem Maße, in dem die historische Forschung fortschreitet, wird sich der provisorische Charakter auch dieses Buches erweisen. Wenn es einstweilen dem Leser die noch unübersichtliche Geschichte der Dekade bündelte und plastisch machte, ihn zugleich auf noch unbekanntes Terrain führte und Anstöße für künftige Forschungen gäbe, dann hätte es seinen Zweck erfüllt. Die "Wende" 1982/83 und die erste Zeit der Regierung Kohl Das Ende der sozial-liberalen Koalition und Helmut Kohls Kanzlerschaft Was den demokratischen Wechsel der Machtverteilung betrifft, so ist die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von langen Wellen gekennzeichnet. Von dem Zwischenspiel der Großen Koalition abgesehen, betrugen die Regierungszeiten auf Bundesebene regelmäßig deutlich mehr als ein Jahrzehnt, bevor sich die Erosion der jeweiligen parlamentarischen Mehrheiten beschleunigte und schließlich irreversibel wurde. So betrachtet, trat die sozial-liberale Koalition in das neue Jahrzehnt der Achtziger zugleich in ihre kritische Phase ein. Der erneute, vordergründig glänzende Sieg bei den Bundestagswahlen vom 5. Oktober 1980 konnte dies nur für kurze Zeit überdecken. Schon 1981, immer gebieterischer aber im Verlauf des Jahres 1982 drängte der Eindruck in den Vordergrund, daß die sozial-liberale Koalition ihre Gemeinsamkeiten definitiv verbraucht hatte; nach mehr als zwölf Regierungsjahren lag ein neuer "Machtwechsel" in der Luft. Bereits 1981 verlautete aus der Umgebung des Außenministers und F.D.P.-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, daß er keine Möglichkeit sehe, die Koalition noch lange fortzuführen.1 Und tatsächlich stellte sich für die F.D.P. zunehmend die Frage, womit sie sich gleichsam weniger schadete: mit dem Verbleiben in einer Regierungskoalition, deren Schicksalskurve immer offensichtlicher nach unten wies, oder mit dem Sprung ins Ungewisse, an dessen Ende der Machterhalt durch Koalitionswechsel würde stehen können. Phantasiefördernde Modelle, wie sich ein solcher Wechsel vollziehen könnte, hatten schon früher die Ministerpräsidenten Niedersachsens und des Saarlandes, Ernst Albrecht und Werner Zeyer, zur Verfügung gestellt. Albrecht hatte schon 1976 die sozial-liberale Koalition in Hannover abgelöst, indem er die F.D.P. auf seine Seite zog, bevor er allerdings 1978 die absolute Zahl der Mandate errang und daher einer Alleinregierung der CDU vorstand. In Saarbrücken bestand schon seit 1979 eine Koalitionsregierung aus CDU und F.D.P. Die größte Signalwirkung übte hingegen der Regierungswechsel in Berlin aus, wo Richard von Weizsäcker im Mai 1981 die sozial-liberale Koalition ablöste und zunächst einen von der F.D.P. tolerierten CDU-Minderheitssenat installierte. Erst 1983, nach dem Machtwechsel in Bonn, sorgte hier die förmliche Koalition mit der F.D.P. für stabile Mehrheitsverhältnisse. Die Frage, ob und wann auch die Bundes-F.D.P. "springen" würde, beschäftigte nun zunehmend die politischen Kommentatoren. In ihren Anfangsjahren, als sich wirtschaftliche Zuwächse verteilen und weitgespannte Hoffnungen hegen ließen, hatten die Koalitionspartner im ganzen harmonisch kooperiert. Aber in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gelangte der Fortschrittsoptimismus, der die Ära Brandt charakterisiert hatte, an sein stilles Ende. An dessen Stelle waren Ölschock und Rezession, Arbeitslosigkeit und Kulturpessimismus getreten. Die hieraus resultierenden Probleme und die unterschiedlichen Lösungsansätze hoben die politischen Differenzen innerhalb der sozial-liberalen Koalition hervor und beeinträchtigten ihre Handlungsfähigkeit in gefährlicher Weise. 1982 ging das Bruttosozialprodukt zurück, und im November stieg die Zahl der Arbeitslosen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik auf über zwei Millionen. Unter dem Druck der anhaltend unbefriedigenden konjunkturellen Entwicklung vertiefte sich die Kluft zwischen den sozial- und gesellschaftspolitischen Zielen, die die Aufbruchzeit der sozial-liberalen Koalition gekennzeichnet hatten, und den eng begrenzten politischen Gestaltungsmöglichkeiten, die der Regierung Schmidt/Genscher faktisch noch zu Gebote standen. Die Folge waren Brüche im Regierungslager und Argumentationsvorteile für die Opposition. Insgesamt mehrten sich die Stimmen, die deutliche Anzeichen für eine Überforderung des sozialen Interventionsstaates zu erkennen glaubten und einen grundsätzlichen Wechsel in der Haushalts-, Gesellschafts- und Sozialpolitik forderten. Bereits aus der Opposition heraus war es der Union gelungen, wichtige politische Felder semantisch zu besetzen. Indem sie für "mehr Eigenverantwortung" ebenso eintrat wie für Liberalisierung, für Haushaltskonsolidierung ebenso wie für die sozialpolitische Stärkung der Familien, vermochte sie sich in den Augen einer wachsenden Zahl der Stimmbürger als die zukunftsfähigere Alternative zu präsentieren. Unter diesen Umständen mußten sich die Spannungen im Kabinett verschärfen: Während die Liberalen in ihrer Mehrheit einen strikten Konsolidierungskurs steuerten, klagten gestandene Sozialdemokraten und führende Gewerkschafter über soziale Unausgewogenheit und eine Politik auf Kosten des "kleinen Mannes". Auch eine Kabinettsumbildung im April 1982 konnte den Trend nicht umkehren. Auf den Tiefpunkt gelangte die Stimmung nach den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft am 6. Juni 1982. Gemessen am Wahlergebnis von 1978, verlor die SPD fast neun Prozent der Stimmen, und erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik avancierte die CDU zur stärksten Partei in der Hansestadt, die ja die Heimat des Bundeskanzlers war. In der Folge beschleunigten sich die Absetzbewegungen im Lager der F.D.P., aber auch innerhalb der SPD. Neben der problematischen wirtschaftlichen Lage machte der SPD vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen. Der im Dezember 1979 gefaßte "NATO-Doppelbeschluß" hatte die Sowjetunion nicht zum Abzug ihres Potentials an atomaren Mittelstreckenraketen bewegen können; folglich rückte nun - nach dem keineswegs auszuschließenden Scheitern einer Verhandlungslösung - die für Ende 1983 vorgesehene Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen auf dem Boden der Bundesrepublik immer näher. Helmut Schmidt, selbst einer der Architekten des Doppelbeschlusses, war fest entschlossen, an der einmal eingeschlagenen Strategie festzuhalten und die Nachrüstung notfalls durchzuführen. Wieweit ihm allerdings dabei seine Partei folgen würde, erschien im Sommer 1982 unsicherer denn je. Zum Teil schon bedrängt durch die GRÜNEN, programmatisch fundiert von Vertretern der nationalprotestantisch-pazifistisch geprägten Gruppierung um Erhard Eppler, verweigerte ein wachsender Teil der Sozialdemokraten ihrem Kanzler die sicherheitspolitische Gefolgschaft. Von hier aus drohte der Koalition eine kaum abzuwendende Gefahr. Für Verteidigungsminister Hans Apel ließ sich "nicht übersehen, daß die SPD in der Sicherheitspolitik nicht belastbar ist und insofern ihre Regierungsfähigkeit bereits verloren hat".