Themen dieser Abhandlung sind die Geschichte einer falsch etikettierten Antinomie und einer Pseudo-Paradoxie und die Semantik selbstbezüglicher Sätze, die keine Antinomien heraufbeschwören. Bolzanos Diagnose des Trugschlusses, den er als den Lügner bezeichnet, und seine Analyse des Begriffs Lüge werden verwendet, um die neutestamentliche Berufung auf einen kretischen Nestbeschmutzer gegen etliche Logiker in Schutz zu nehmen und um Russells Exposition der Antinomie zu kritisieren, die wir leider als den Lügner zu bezeichnen pflegen. In seiner Diskussion von Savonarolas vortrefflicher Exposition dieser Antinomie stellt Bolzano eine Überlegung zur Negation selbstbezüglicher Sätze an, die generalisiert werden kann. Es zeigt sich, dass solche Sätze auch zu einer Revision gängiger Anforderungen an Übersetzungen nötigen. Wolfgang Künne ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Hamburg, Präsident der Internationalen Bolzano-Gesellschaft und der erste Träger des Frege-Preises der Gesellschaft für analytische Philosophie.