Leitbild oder Erinnerungsort?

Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen zurück auf eine gemeinsame Veranstaltung der Walther-Rathenau-Gesellschaft und der Friedrich-Naumann-Stiftung, die im Mai 2002 in der Theodor-Heuss-Akademie, Gummersbach, ein Symposium zum Thema "Leitbild Rathenau?" ausrichteten. Hintergrund der Tagung war die achtzigste Wiederkehr des Todestags von Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 als Außenminister der Weimarer Republik von nationalsozialistischen Extremisten erdmordet worden war. Dieses Datum nahmen die Veranstalter zum Anlass, um aus dem Abstand von nunmehr fast einem Jahrhundert die Frage aufzuwerfen, welchen Platz der Politiker, der Philosoph, der Wirtschaftsethiker, der homme des lettres, Walter Rathenau in unserer Zeit einnimmt - und einnehmen sollte. Taugt er nach dem Ende der klassischen Moderne und im Zeitalter der Globalisierung noch als politisches Leitbild auf dem Weg in die vor uns liegende Zukunft, und kann die Rückbesinnung auf ihn zwischenzeitlich verschüttete Wege eines Ausgleichs auch für uns noch gültiger Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Abgrenzung und Integration, zwischen Zwang und Freiheit weisen? Oder hat Rathenau uns heute nichts mehr zu sagen, weil er in seinen Anschauungen und Handlungsbedingungen ganz einer versunkenen Epoche angehört, die erst am Anfang einer Auseinandersetzung zwischen Zivilgesellschaft und Machtstaat stand und den katastrophischen Zusammenbruch eines nationalistisch aufgeladenen Fortschrittsparadigmas erst noch erleben musste?