Ringo Rabe traut sich was

Manfred Mai wurde 1949 in Winterlingen auf der Schwäbischen Alb geboren.Nach der Schule machte er eine Malerlehre und arbeitete danach drei Jahre lang in einer Werkzeugfabrik.In dieser Zeit entdeckte er die Welt der Bücher und merkte, wie viel ihm bis dahin entgangen war. Er wurde zu einem leidenschaftlichen Leser und über den zweiten Bildungsweg zu einem engagierten Lehrer.1978 erschienen seine ersten Texte. Seither kamen zahlreiche Bücher hinzu, bislang sind rund 150 Bücher von ihm erschienen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden. Die meisten beschäftigen sich mit dem Zusammen- und Auseinanderleben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. "Ich schreibe besonders gern für Kinder, weil ich ihre Fantasie anregen möchte und weil ich mir wünsche, dass sie durch meine Bücher sich selbst und ihre Umwelt immer wieder neu sehen lernen", sagt der viel beschäftigte Autor.

Vermutlich ist es für kleine Vögel ein ganz großes Abenteuer, wenn sie zum ersten Mal das Nest verlassen und fliegen lernen müssen. Man kann das ganz leicht beobachten: wie lange sie zögern, wie ängstlich sie lieber doch noch nicht starten wollen, wie vorsichtig sie sich dem drohenden Abgrund nähern, wenn sie über den Rand des Nestes äugen... Und jedem Kind ist vollkommen klar, dass diese Überwindung, wenn sie dann wirklich starten, großen Mut und größtes Vertrauen in die Eltern verlangt, die sie dazu aufgefordert haben. Wie klug und einfühlsam die Eltern ihre Kinder ermutigen, wird in dieser Geschichte einer Rabenfamilie sehr witzig erzählt und ins Bild gebracht. Eines der Kinder trägt sogar einen schicken Helm, was die Angst sicher ein wenig kleiner macht, aber vor allem ist es der Stolz der Eltern, der die Kleinen letztlich dazu verführt, das Abenteuer zu wagen. Allerdings gibt es ein Kind, Ringo, den dieser ganze Affentanz komplett kalt lässt. Er verkündet trotzig, dass er überhaupt nicht fliegen will. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Eltern reagieren - zuerst mit gutem Zureden, dann mit ein wenig Druck und dann mit dem wohl härtesten Mittel: Sie lassen ihn einfach allein im Nest hocken, um mit den wohlgeratenen Geschwistern einen herrlichen Ausflug zu machen. Allerdings haben sie sich gewaltig in ihrem Sohn getäuscht. Der ist einfach nur froh, endlich seine Ruhe von der Mischpoke zu haben, und das tun zu können, was er am liebsten macht: zu singen. Genau das war aber bisher nicht möglich - weil die andern immer störten - und nun singt er so schön, dass sich ganz schnell ein großes Publikum einfindet. Die zurückkehrenden Eltern glauben aber nicht, dass ihr Rabenkind diese Gabe besitzen kann, schließlich ist er auch ein Rabe, und Raben können nicht singen; oder? Herrlich zeichnet der Illustrator mimische Reaktionen: Ungläubigkeit, Enttäuschung, Unverständnis, Ärger, Ratlosigkeit, Hoffnung, Stolz, glückliches Selbstbewusstsein und Neugier. Allein dafür ist dieses Bilderbuch sehr empfehlenswert. Aber die Konsequenz der Moral für Ringo, mit diesen phantasielosen Eltern und Geschwistern umzugehen, die ist so herrlich befreiend für jedes Kind, das diese Geschichte kennenlernt, dass man ihm dieses erhebende Gefühl unbedingt gönnen sollte. Gabriele Hoffmann (Leanders Leseladen, Heidelberg)