Vom glorreichen Sieg...
Die rote Fahne der internationalen Sozialdemokratie weht vom Königsschloss und allen öffentlichen Gebäuden Berlins. Wenn solches unser verewigter Bebel noch erlebt hätte! Unsere langjährigen Mühen und Kämpfe für die gerechte Sache des arbeitenden Volkes sind nunmehr durch den Erfolg gekrönt worden. Die morsche Gesellschaftsordnung des Kapitalismus und des Ausbeutersystems ist zusammengebrochen. Meine Aufzeichnungen sollen, so gut ich es vermag, die Auferstehung des neuen Reiches der Brüderlichkeit und der allgemeinen Menschenliebe für meine Kinder und Kindeskinder beschreiben.

... bis zum bitteren Ende
Doch es wird mir unmöglich, die Aufzeichnungen in ihrem bisherigen Umfang weiter fortzusetzen. Denn von morgen ab trifft die Verlängerung der Arbeitszeit auf 12 Stunden in Kraft. Man behandelt mich jetzt auch derartig als politisch verdächtig, dass ich nicht mehr sicher bin vor einer Haussuchung und Beschlagnahme meiner Papiere.

Zum Autor: Eugen Richter
Eugen Richter (1836-1906) war konsequent liberaler Politiker in der wilhelminischen Ära. Er kämpfte für Freiheit, Kapitalismus und freiwillige Genossenschafts- und Sozialversicherungs-Ideen. Hellsichtig wandte er sich gegen Nationalismus, Militarismus, Protektionismus, Sozialismus und Antisemitismus. Die vorliegende Schrift aus dem Jahre 1891 parodiert die sozialdemokratischen Bestrebungen - und dies liest sich heute wie eine ziemlich exakte Beschreibung dessen, was der Staat in weiten Teilen der Welt praktiziert und was teils auch bei uns traurige Realität geworden ist. Detmar Doering stellt in seinem aktuellen Vorwort das bewegte Leben dieses engagierten, aber leider weitgehend vergessenen deutschen Freiheitsfreundes dar.