Rilkes visionäres Sehertum und sakrale Autorschaft Das Buch untersucht anhand zahlreicher Briefwechsel Rilkes Konzeption von sakral gesteigerter Autorschaft. Selbstermächtigung und Selbstverkleinerung, Inspirationsvokabular und Neomystizismus, visionäres Sehertum und mönchische Askese: breit ist das Spektrum von Rainer Maria Rilkes Selbstentwürfen als »heiliger Autor«. Damit zählt er, ähnlich wie Stefan George, zu jenen Dichtern der klassischen Moderne, die in der nachmetaphysischen Krisenstimmung um 1900 sakrale Autorschaftskonzeptionen entwickeln. Solche Konzepte liefern nicht nur überzeugende Sinnangebote für eine an Entfremdung und Religionsverlust leidende Gesellschaft, sondern sichern ihren Trägern gleichermaßen feste Positionen in einem pluralisierten Buchmarkt. Im Unterschied zu den feierlichen Dichtungs-»Liturgien« Georges setzt Rilke allerdings bevorzugt auf das Briefmedium: in zahlreichen Korrespondenzen entwirft und vermittelt er ein facettenreiches Selbstbild ästhetischer Prophetie, das zum einen auf vielfältigen religiösen Traditionen ruht, zum anderen immer wieder auf sein eigenes poetisches Werk verweist. Von entscheidender Bedeutung für dieses langfristig erfolgreiche Konzept der Selbstsakralisierung ist Rilkes Briefgemeinde; jene Vielzahl an Mäzenen und Mentorinnen, Verlegern, Intellektuellen, Künstlerfreundinnen und Literaten, mit denen der öffentlichkeitsscheue und rastlos umherreisende Dichter langjährige, intensive Briefwechsel unterhält. All diese Freunde und Briefpartner unterstützen Rilke faktisch und ideell, tragen seine eigentümliche und für die Moderne doch so charakteristische Lebensform mit und teilen mit ihm säkular-religiöse Redeweisen, die keinen gemeinsamen christlichen Bezugspunkt mehr aufweisen. Damit werfen Rilkes Korrespondenzen aber auch die Erinnerungsbücher aus der Gemeinde grundsätzliche Fragen nach Soziologie und Semantik heiliger Autorschaft auf und machen sie gleichermaßen beantwortbar. Inhalt Einleitung I. Hauptteil: Der Künstler und die Krisis 1. Verbürgerlichung und Krisendiskurse um 1900 - zum Verhältnis von Kollektivierung und Opposition 2. Zur Situation des Künstlers um 1900 2.1 Ökonomisches: Buchmarkt und Krise des Autors 2.2 Ideengeschichtliches: Autorschaft zwischen Sakralisierung und Löschung 3. Heilige Autorschaften: ein Vergleich zwischen George und Rilke Exkurs: Strategie und Intention oder Habitus und Bedeutung 3.1 George und Rilke als >Gesamtkunstwerke< 3.2 George und Rilke als poetae vates: Priester und Prophet 3.3 George und Rilke als Führer einer Jüngergemeinde 3.3.1 Individualisierung - Anonymisierung 3.3.2 Differenzierung - Homogenisierung 3.3.3 Schriftlichkeit - Mündlichkeit Fazit: Positionenkonkurrenz? II. Hauptteil: Zu Soziologie und Semantik von Autorschaft bei R. M. Rilke 1. Systematische Perspektiven 1.1 Systemische Epistolarität und die Folgen 1.2 Zwischen Gruppe und Netzwerk: Die Rilke-Gemeinde 2. Historische Perspektiven 2.1 Autor, Laufbahn und Gemeinde im Überblick 2.2 Rilke als heiliger Mönch und Mystiker 2.2.1 Sozialbiographischer Kontext 2.2.2 Autorsemantik im Stundenbuch 2.2.3 >Armut< und >Einsamkeit< in Briefen an Clara und Kappus 2.2.4 Die Heiligenrolle in den Korrespondenzen mit Ellen Key und Lou Salomé 2.2.5 Bildsequenzen 2.2.6 Hattingberg-Korrespondenz 2.2.7 Funktionsspektrum und Grenzen der Franziskus-Figur 2.2.8 Fortschreibung der Heiligenrolle in der Memorialliteratur 2.3 Rilke als Prophet 2.3.1 Sozialbiographischer Kontext 2.3.2 Autorsemantik in den >Prophetengedichten< 2.3.3 Zwischenspiel: Die Spanienreise 2.3.4 Briefprophetie und alttestamentarische Vorbildfiguren 2.3.5 Briefprophetie und Sturm 2.3.6 Briefprophetie und automatisches Schreiben 2.3.7 Instrumente der Rezeptionslenkung 2.3.8 Fortschreibung der Prophetenrolle in der Memorialliteratur Schluss Summary Anhang Quellen: Briefe Literaturverzeichnis Personenregister Dr. Martina King ist Assistenzärztin an der Kinderklinik der TU München im Bereich Neonatologie, im WS 08/09 zusätzlich Lehrbeauftragte des Department I für Germanistik der LMU München sowie des Seminars für Deutsche Philologie der Universität Göttingen.