Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich in der Geistigbehindertenpädagogik ein erweiterter Lesebegriff durchgesetzt, der selbst das Situationsverstehen dem Lesen zuordnet. Sollen Schüler mit geistiger Behinderung jedoch zum eigentlichen Lesen geführt werden, dann bleibt der Erwerb der alphabetischen Strategie das entscheidende Hindernis. In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick auf die Phonologische Bewusstheit, der in der aktuellen fachwissenschaftliehen Diskussion zum Leseerwerb zentrale Bedeutung zugeschrieben wird.Dem entgegen stehen die Ergebnisse einer Untersuchung, die Cossu und Marshall im Jahre 1990 veröffentlichten. Es handelt sich um die Fallstudie eines knapp neun Jahre alten italienischen Jungen mit Down-Syndrom. Obwohl seine Lese1eistungen sowohl beim Wortals auch beim Pseudowortlesen ganz ausgezeichnet waren, konnte er einige Aufgaben zur Überprüfung der Phonologischen Bewusstheit nicht einmal ansatzweise lösen. Die Cossu'sche Untersuchung, deren Resultate das Konstrukt Phonologische Bewusstheit in seiner Bedeutung für den Schriftspracherwerb generell in Frage stellen, wurde in den folgenden Jahren - weltweit und in unterschiedlichen Sprachen - wiederholt.Das vorliegende Buch befasst sich mit zwei Schwerpunkten. Zunächst wird der Stellenwert der Lesekompetenz für Schüler mit geistiger Behinderung betrachtet, es werden Unterrichtswerke und Lehrpläne gesichtet und es wird ermittelt, wie viele Schüler mit geistiger Behinderung das Schriftlesen bisher erlernt haben. Vor dem Hintergrund zeichentheoretischer Perspektiven und entwicklungspsychologischer Modelle des Schriftspracherwerbs geht es in diesem Teil abschließend darum, ein revidiertes Modell des erweiterten Lesens vorzustellen.